Nachhaltig durch Luxus: Die Hermès Circular Economy
18. März 2021
Grosses Feature von Barbara Markert, Partnerin Mathony Brand Strategists, im Magazin „The SPIN OFF“
Luxus ist nicht immer nachhaltig. Aber eine Ausrichtung auf Luxus erleichtert das Bestreben nach Nachhaltigkeit. Beispiel: Hermès. Dort gibt es sogar eine Abteilung, die aus Abfall luxuriöse Sammlerstücke fertigt.
Bis zur Decke stapeln sich die Lederrollen, in den Regalen tummelt sich Kisten eng aneinander, daneben liegen sorgfältig zusammengelegte Stöße mit bunten Stoffen neben Porzellan und Kristall, auf vielen Schreibtischen regiert das kreative Chaos. Mitarbeiter hantieren mit Scheren, Schablonen, Kleber, diskutieren, begutachten oder halten mit ernster Miene Gegenstände gegen das Licht. Das Atelier „petit h“ von Hermès schaut aus wie eine Bastel-Stube für Fortgeschrittene. Oder sagen wir mal lieber, für Experten. Denn unter den Bastlern befinden sich echte MOFs, meilleurs ouvriers de France, also die besten und höchst prämierten Handwerker des Landes wie auch echte Design-Genies.
Die Leitidee dieser sehr speziellen und in der Modeindustrie einzigartigen Upcycling-Werkstatt könnte man so umschreiben: „Schmeißt nichts weg, das kann man noch zu etwas gebrauchen.“ Sätze wie diese kennt man vor allem von der Nachkriegsgeneration. Pascale Mussard, Initiatorin dieses luxuriösen Resteverwertung, gehört dieser Generation zwar nicht an, doch sie hat diesen Satz zu ihrem Berufsethos gemacht. Die Französin, die ihr Leben lang auf verschiedensten Positionen bei Hermès tätig war und sogar mit der Gründerfamilie verwandet ist, sammelte ab dem Jahr 2010 ein, was andere Werkstätten des berühmten Unternehmens nicht mehr gebrauchen konnten: Lederreste, Seidentücher mit einem Fleck, Kristallvasen und –gläser sowie Porzellan mit kleinen Fehlern, Metallverschlüsse mit Kratzern, Prototypen, die nicht in Serie gingen, Farbstudien, die verworfen wurden, und sogar hölzerne Werkbänke für Sattel, die am Ende ihrer Nutzung angelangt waren.
Aus den Resten entsann sie zusammen mit den Handwerkern und Designer neue Dinge. Verblüffende Dinge voller Kreativität, teilweise nützlich, teilweise verspielt und teilweise gedacht als reine Dekoration. Das Ergebnis waren immer Unikate, gefertigt mit der gleichen Sorgfalt und dem Qualitätsanspruch, für den Hermès weithin bekannt ist. „Es gibt kein Stück, das nicht dafür gedacht ist von einer Generation zu anderen weitergegeben zu werden“, umschrieb Pascale Mussard noch kurz vor ihrer Rente im Jahr 2018 die Idee ihres „kleinen Hermès-Ateliers“.
Die wichtigste Produkt-Spezifikation ist bei Hermès, reparierbar zu sein
Heute führt ihr langjähriger Mitarbeiter, der Designer Godefroy de Virieu, dieses Vermächtnis fort und erweitert das Sortiment um neue Kreationen. Von ihm stammen zum Beispiel die Kinderschaukel aus abgelegten Steigbügeln der Sattlerwerkstatt und bezogen mit Lederresten des Handtaschen-Atelier oder die Schnürbänder aus Seidentüchern, die mit Leder bezogenen Wäscheklammern oder die ledernen Briefbeschwerer in Form von riesigen Pilzen.
Das Angebot dieser intern bezeichneten „Rückwärtskreation“ wechselt regelmäßig – je nachdem welche Materialen zur Verfügung stehen. Dennoch gibt es ein gewisses Standardsortiment mit Schlüsselanhängern, mit Leder gebundenen Notizbücher, geflochtenen Seidenarmbändern, Charms und Geldbeuteln.
Dass solche wertvollen Materialien überhaupt „übrig“ bleiben, liegt natürlich auch daran, dass bei Hermès die Qualitätsansprüche hoch sind. Es gibt weder Sales-Perioden noch Artikel zweiter Wahl. Nur ein perfektes Produkt schafft es bei der Traditionsmarke in den Verkauf. Dazu kommt, dass sich das Atelier „petit h“ nahtlos in die Firmenphilosophie einpasst. Dieses setzt sich zum Ziel, „Produkte zu designen, die die Zeit überdauern“ und als einer ihrer wichtigsten Werte die „Achtsamkeit im Umgang mit natürlichen Ressourcen“ nennt. So stammen zum Beispiel 100% des Silber- und Goldschmucks aus Recycling-Quellen und 96% der benutzten Häute aus der Fleischwirtschaft.
Jedes einzelne Produkt des 1837 gegründeten Unternehmens ist mit einem „After-Sales-Service“ ausgestattet, der Instandhaltungen beinhaltet.
Bis zu 700 verschiedene Reparatur-Leistungen werden angeboten, 78 Mitarbeiter sind nur dafür angestellt – und das nicht erst seitdem Reparieren aktuell „zum Trend“ ausgerufen wurde. Bemühungen gibt es auch, den Stoffverschnitt weiter zu reduzieren. Um 30% ist er bereits gesunken. Jenseits der Upcycling-Abteilung „petit h“ laufen Projekte, um die wertvollen Abfälle von Seide und Kaschmir in neue Produkte zu überführen, so z.B. in Mischgewebe mit Recyclinganteil oder akustische Isolierungen für die eigenen Firmen-Gebäude.
Godefroy de Virieu, der sich als langjähriger, externer Dienstleister den Blick von außen bewahrte, urteilt: „Ich denke, Nachhaltigkeit steckt in den Wurzeln dieses Unternehmens. Die wichtigste Produkt-Spezifikation ist hier, reparierbar zu sein. Das echte Problem, das wir heute in der Welt haben, liegt darin, dass wir so viele Dinge haben, die nur einmal benutzt und dann wegschmissen werden.“ Eine Kelly-Bag oder einen Seiden-Carré wegzuschmeißen, käme niemanden in den Sinn. Hermès-Produkte sind Erbstücke und damit Sinnbilder gegen den schnellen Konsum.
Lokale und damit nachhaltige Produktionskonzentration seit Jahrhunderten gewachsen
Dennoch stellt sich die Frage, ob dieses nachhaltige Wirtschaften Hermès nur deshalb besser als anderen Unternehmen gelingt, weil sie ausschließlich im High-End-Bereich des Luxus agieren. Dass von 55 Betriebsstätten 43 in Frankreich angesiedelt sind, 80% der Produkte im Heimatland, davon 61% im eigenen Unternehmen, hergestellt werden und dass 92% der Tiere, die für Hermès das Leder liefern, auf Weiden in Europa grasen, sorgt für eine beneidenswert gute Carbon-Bilanz. Aber diese lokale Produktionskonzentration hat natürlich auch ihren Preis, der sich im Produkt niederschlägt und der vom Kunden bezahlt werden muss. Die Klientel ist vorhanden und wurde über Jahre hinweg und mittels Beständigkeit an das Haus gebunden, genauso wie die nachhaltigen Produktionsstrukturen seit Jahrhunderten gewachsen sind. Sie sind nicht, wie bei anderen Unternehmen, einer neuartigen Nachhaltigkeitsstrategie geschuldet, initiiert und getrieben von der Klimakrise und den damit veränderten Konsumentenansprüchen.
Es ist der Geschäftsleitung des Traditionstäschner aus der Rue du Faubourg Saint-Honoré zugute zu halten, dass sie nicht wie manche andere in den 90er-Jahren aus Kostengründen out-gesourced oder Produktionsstätten nach Asien verlagert haben. Das beharrliche Festhalten an Traditionen, Mitarbeitern, Know-how und den eigenen Werkstätten hat das Unternehmen heute in eine Poolsituation in Sachen Nachhaltigkeit befördert. Diese Strategie wird seit einigen Jahren zudem ausgebaut durch Kooperationen mit Natur- und Tierschutz-NGOs, wie dem WWF oder Act4Nature, Forschungseinrichtungen, Elite-Universitäten und selbst auferlegten Umweltstandards.
Mit diesem Background schafft es Hermès sogar Proteste von Naturschützern gegen ihr neues Projekt, dem Aufbau einer der größten Krokodil-Farmen in Australien, entgegen treten zu können, da solche Pläne in enger Zusammenarbeit mit Verbänden vor Ort, in diesem Fall die International Crocodile Farmers Association, und unter Einhaltung internationaler Standards erfolgen. Das Recycling- oder Upcyling-Atelier „petit h“ ist deshalb nur ein ganz kleiner – aber PR-wirksamer – Baustein in einer traditionell gewachsenen Nachhaltigkeits-Geschäftspolitik, wie sie häufig nur bei historisch geprägten Unternehmen zu finden ist, die Werte über den schnellen Gewinn stellen.
Autorin: Barbara Markert
Seit rund 25 Jahren berichte ich über Mode – als Wirtschaftsjournalistin für die Publikums- und Fachpresse wie auch als Content-Creatorin für Mode- und Accessoires-Brands. In meinem Leben habe ich rund 5000 Modeschauen auf den internationalen Fashionweeks besucht. Als Wahl-Pariserin sitze ich an der Quelle der Trends und präsentiere diese Branche mit Leidenschaft und wirksamem Storytelling. – Ich weiß um die aktuellen Topthemen und Herausforderungen dieser Industrie, wie Digitalisierung, Diversity & Inclusion, Gen-Z-Ansprache oder Nachhaltigkeit. Seit Jahren setze ich mich für einen bewussteren und besseren Modekonsum ein.